Gegenteiltag – das Grab des wahren Spaßes
„Hey, du siehst heute aber hässlich aus“
„Haha, zwischen dir und einem Pottwal gibt es gar keinen Unterschied!“
„Ein Wunder, dass deine Eltern dich noch nicht ausgesetzt haben“
…es könnte wie eine Beleidigung klingen, wie etwas, bei dem der Spaß vorbei ist. Aber nein, denn nach einigen Sekunden, in denen man noch mit Verwirrung kämpft, rufen sie ein „Haha, heute ist doch Gegenteiltag!“ oder ein „Das war doch nur Spaß“ hinterher. „Wusstest du das etwa nicht?“
Das zu wissen, gewarnt zu sein an diesem Tag der Überrumplung, das scheint unmöglich. Denn meistens weiß nur der, der den Spaß gerade macht, Bescheid. Wo wäre denn auch der Spaß, wenn alle wüssten, dass sie jeden Mittwoch lieber damit rechnen sollten, zu hören, was sonst nie ausgesprochen wird - was sofort mit einem „Gegenteiltag!“ zurückgezogen wird. Es ist doch, als würde einer ein brennendes Hölzchen in eine Scheune voller Heu werfen, nur um gleich darauf einen Eimer Wasser hinterherzuschütten, um das Feuer zu löschen.
Nur leider bleibt ein hässlicher kleiner Brandfleck zurück. Ein mal kleinerer mal größerer Kreis verbrannten Schwarz, das sich in die Heuballen gefressen hat.
Wenn die Klasse 9c in Sport um den Sportplatz rennt, und Maxi als letzter rennt, dann überholt ihn der erste und ruft: „Oh Gott, bist du langsam. Du bist echt immer in allem Letzter!“, rennt vorbei und dreht sich um „Haha, Spaaaß!“. Maxi bleibt stehen und denkt, dass das vielleicht schon stimmt, dass er nichts kann.
Oder wenn Paula ein neues Kleid zum ersten Mal in die Schule anzieht. Dann kommen die anderen Mädchen und eins fragt: „Haha, was ist das denn? Von welchem Flohmarkt kommt das denn?“ und kichern dann: „Ach Paula, heute ist doch Gegenteiltag“ und Paula zieht das Kleid nie wieder an.
Und Timo hat in Erdkunde vergessen, was die Hauptstadt von Frankreich ist und sein Nachbar lacht: „Dümmer als Timo geht’s echt nicht. Dem ist grad seine letzte Gehirnzelle gestorben“ und Timo wird rot und starrt auf seinen Tisch, bis sein Nachbar ihm dann auf die Schulter haut: „War ja nur Spaß“.
Wenn wir uns also vorstellen oder uns selbst an Ähnliches zurückerinnern, sollten wir uns fragen, wer denn eigentlich damals, lange vor unserer Schulzeit, den Gegenteiltag erfunden hat, wenn er doch nur Schaden anrichtet. Aber wir sollten uns auch fragen, warum wir selbst jede Woche „Gegenteiltag“ schreien. Oder „Spaß“ rufen, falls wir in den höheren Klassenstufen sind und bemerkt haben, dass ein einfaches „Spaß“ auch seinen Zweck erfüllt.
Denn auf der anderen Seite, tut es uns nicht auch gut, endlich einmal sagen zu können, was wir wirklich denken? Herauszuschleudern, was wir uns sonst immer bemüht haben, für uns zu behalten? Vielleicht ist der Gegenteiltag so auch ein Gewinn, da er uns die Möglichkeit gibt, ehrlich zu sein. Nein. Ehrlichkeit bedeutet unsere Meinung zu sagen ohne uns zu verstecken. Also ist der Gegenteiltag ein Fluch, weil er es uns so einfach macht, uns zu verstecken?
Er kommt nicht nur zum Einsatz, wenn wir anderen unsere Meinung sagen oder unausgesprochene Wahrheiten ans Licht bringen, sondern auch sonst immer, wenn wir uns nicht trauen, nicht mutig genug sind, zu feige sind. Wenn wir einen Vorschlag machen wollen, aber nicht wissen, wie die anderen darauf reagieren könnten. Wenn die Gesichter dann zu erschrocken, zweifelnd oder verächtlich aussehen, dann war eben alles nur „Spaß“. Wir wiegen uns in der Sicherheit, uns hinter dem „Spaß“ verstecken zu können. Alle Menschen spielen gerne mit Feuer, es hat etwas faszinierendes, wie die roten Flammen aus dem Nichts aufzüngeln und immer größer und größer werden. Es macht Spaß, das zu beobachten – wenn wir einen Eimer Wasser in der Hand halten, und wissen: wir kontrollieren. Wenn nicht, dann hätten wir uns wohl auch nicht getraut, ein Streichholz zu werfen, oder?
Und zuletzt bahnen sich durch den „Spaß“ auch noch ernstere Dinge ihren Weg ans Licht, entstehen ganze Waldbrände, die unterirdisch immer weiter kriechen und sich nur durch aufquellenden Rauch bemerkbar machen. Wenn wir nur „scherzen“, neigen unsere Herzen dazu, überraschend hoch zu schlagen. Da sagt die eine plötzlich „ Ich glaub bald reiß ich aus, ich halte es zu Hause nicht mehr aus.“ oder „ Mir geht’s echt schlecht im Moment. Ich glaub, bald breche ich zusammen.“ Die andere dreht sich erschrocken um: „Was, echt?!“ und die erste lacht. Nee, war doch nur Spaß. Und sie gehen weiter. Sollten wir das Wort „Spaß“ aus dieser Hinsicht also statt als automatischen Lachauslöser eher als Warnsignal in unseren Köpfen speichern? Ist „Spaaaß“ nicht gleich Spaß, sondern nicht selten das Gegenteil dessen?
Natürlich kann der Gegenteiltag auch ganz echt sein und wirklich keine Hinterbedeutung haben. Manchmal sagen wir wohl auch „Spaß“ und meinen es auch so. Oder wir meinen einfach gar nicht groß etwas. Aber eine gewisse Vorsicht ist schon gefragt, oder?
V.R.